Weiß ist der Nebel, der an einem November Morgen über der Donau wabert. Belgrad, Beograd, Griechisch Weißenburg, the White City. Einst römische Festung, stammt der Name Die Weiße Stadt wohl von den hellen Steinen aus denen die alte Festung gebaut ist. Einige frisch renovierte Häuser strahlen zwar in frischem Weiß und verkünden Aufbruchsstimmung, doch der Großteil hat sich den Ruß des Sozialismus noch nicht von den Fassaden gewaschen. „The White City, that’s a joke of a name“ – Pete Townsend’s Refrain trifft es besser. Allerdings meinte er nicht Belgrad, sondern besang einen der raueren Bezirke Londons. Belgrad ist eine erstaunliche Stadt. Vital trotz Wirtschaftskrise. Die Narben von planlosem Städtebau, willkürlicher, unsensibler Architektur oder Krieg trägt sie offen und selbstbewusst zu Markte.
Krieg und Embargo haben die Wirtschaft in den 90er und 0er Jahren ruiniert, Serbien ist vergleichsweise arm. Doch das niedrige Wohlstandsniveau macht auch erfinderisch. Überall sprießen Galerien, Bars, Clubs und Cafés aus dem Boden, so dass manche vom Berlin des Balkans sprechen. Die Art von Berlin, die mehr und mehr verschwindet, gegendert wird, steigenden Grundstückspreisen und den Mechanismen der Marktwirtschaft zum Opfer fällt. Im Sommer brummen die sehenswerten Clubs in den schwimmenden Booten am Ufer der Save und der Donau.
Lärmschutz? „Ah, lass mich in Ruhe! Ich will leben und das Leben feiern!“, scheint Blagomir, der diensteifrige Portier in meinem Hostel mit einem Grinsen zu antworten. Auf diese sehr deutsche Frage sollte ich nichts anderes erwarten. Belgrad ist eine junge Stadt der Kunst und Kultur, die es versteht ausschweifend zu genießen. Ob in den unzähligen Live-Clubs oder den Galerien, aber auch in der Kafana, dem traditionellen Belgrader Kaffeehaus, beim typischen Turska kafa, einem Mokka. Die Kafana ist mehr als nur ein Kaffeehaus, eher eine Taverne, die auch kleine Speisen anbietet, aber vor allem ein Treffpunkt. Nicht umsonst sagen die Belgrader, „alles Wichtige passiert in der Kafana.“
Überall kommt man schnell ins Gespräch. Die weltweit besten Psychiater stehen wahrscheinlich in Belgrad an der Theke. Mir tut es gut, hier mit Hinz und Kunz ins Gespräch zu kommen. Bier, Wein und Rakija fließen in Strömen. Zu den Belgrader Genüssen gehört die schwelgerisch fleischlastige Küche, Erbe von Osmanen und K&K Monarchie oder einfach serbische Hausmannskost – die robuste Deftigkeit der Balkanküche: Djuvec oder Grillgerichte wie Ćevap oder Ćevapčići sind die Standards. Oft begleitet von knusprigem Fladenbrot und Ајвар, einem scharfen Gemüse Mus hergestellt aus Paprika und Auberginen. Die Serben adeln es gar zum Gemüsekaviar. Das sind zunächst die üblichen Verdächtigen des Balkan-Restaurants um die Ecke. Doch dazu kommen Fisch aus der Donau und diverse unbekannte Köstlichkeiten, wie das Karađorđeva (gesprochen Karadjordjewah). Für ein anständiges Karađorđeva, übersetzt Schwarzer Georg würde ich töten! Das panierte Filet oder Schweinesteak wird mit Kajmak-Käse gefüllt und anschließend frittiert. Natürlich werden alle Speisen begleitet von schmackhaftem Gemüse aus der fruchtbaren serbischen Ebene. Gemüse, das nach Gemüse und nicht nach Gewächshaus schmeckt.
Die Musiker, die durch die Restaurants ziehen, sind noch keine Karikaturen ihrer selbst. Keine klischeehaften Abziehbilder, die Touristen gelangweilt mit einer längst von der Zeit fortgespülten Folklore einlullen. In vielen Restaurants sind sie noch fester Bestandteil beim Tafeln mit guten Freunden, ihr Auftritt hat Witz und Schwung. Starogradska muzika, eine Art traditionelle, städtische Folkmusik steht hoch im Kurs. Ich erlebe Bands die auch vor schmissigen Blasinstrumenten in geschlossenen Räumen nicht Halt machen, deren beleibte Musiker keine Sekunde aus dem Takt geraten, während sie sich mit Bouzouki oder Kontrabass bewaffnet zwischen den Tischen hindurch quetschen.
Selbstverständlich wird bei Tisch geraucht. Oft denke ich, muss geraucht werden – so mancher bärtige Tischnachbar pafft im Eifer gestenreicher Konversation Kette! Und merkwürdigerweise ist das hier weniger abstoßend, als daheim. Weil der Rauch nie eine Chance hat, abzustehen oder zu erkalten? Mir schmeckt’s jedenfalls trotzdem. Die nächtliche Völlerei beschließe ich mit einem starken Mokka, meist noch im Restaurant. Den Rakija, einen aromatischen Obstbrand aus vergorenen Früchten, nehme ich anschließend im Stehen bei Boško am Straßenstand. Obwohl die November-Nächte schon recht frisch sind, schmeckt er mir mit Boškos Geschichten noch besser. Boško, mit Baskenmütze und listigem Grinsen ist für den Direktvertrieb der geistigen Erzeugnisse seines Familienclans zuständig. An seinem ambulanten Stand vor einem Restaurant lockt er geschickt Gäste an, schenkt aus, kassiert und hält nebenher noch ein paar Musikspuren am Laufen. Aus der Rakija-Verkostung macht er eine Kunst und erzählt zu jeder Flasche die passende Geschichte. Belgrad liegt inmitten eines bedeutenden Obstanbaugebietes, der Šumadija. Serbien ist zudem weltweit der zweitgrößte Pflaumen-Produzent. Aus denen wird der traditionelle Šlivovica gebrannt. Es verwundert nicht, dass dieses typische Nationalgetränk allgegenwärtig ist. Aber neben den saftigen Pflaumen wird so ziemlich alles, was in Serbien an Bäumen und Sträuchern hängt, zu Maische verarbeitet und in die Brennblase geschickt: Pfirsiche erfahren ihre vergeistigte Wiedergeburt als Rakija oder Breskve. Kajsijevača wird von Aprikosen , Lozovača von Weintrauben und Smokvovača aus Feigen destilliert. Aus Äpfeln wird Jabukovača, aus Birnen Kruškovača und auch Kirschen (Višnjevača), Quitten (Dunjevača) und gar Maulbeeren (Dudovača) werden nicht verschont. Ich bin sicher, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist, obwohl ich mich redlich, aber vergebens bemüht habe, sie alle zu probieren. Sehe ich die Andacht, den Stolz und das Glänzen in den Augen der Menschen mit denen ich anstoße, erscheinen mir diese aromatischen Seelentröster nicht wie ein banaler Obstbrand, sondern eher wie das Destillat der serbischen Seele. Jeder Belgrader scheint zumindest einen Opa, Onkel oder Bruder zu besitzen, der irgendwo draußen vor der Stadt oder auf der Datsche den besten Rakija der Welt brennt. Jeder Serbe scheint über das Zeug in rauen Mengen zu verfügen, das in überehrgeizigen Varianten schon mal 60 Umdrehungen haben kann. Beim Plaudern mit Boško probiere ich mich für kleines Geld durch die leckeren Erzeugnisse seiner Familie. Jeder Rakija wird erst nach langer Diskussion seiner Vorzüge sorgfältig ausgewählt. Diesmal entscheide ich mich für ein zartes Aprikosen-Aroma, doch irgendein anderer bleibt immer ungetrunken, muss unbedingt noch probiert werden. Stets bin ich bemüht, noch rechtzeitig die Kurve zu kriegen. Meist jedoch einen zu spät! Dieses fatal-fröhliche Belgrad-Ritual ist für den Start in den nächsten Tag wenig hilfreich. So wanke ich mehr als einmal selig meinem günstigen Etagenbett entgegen. Zwar erwache ich am anderen Morgen mit dem gutem Gewissen Boškos kleine Obstbauern-Kooperative unterstützt zu haben, sehe mich jedoch erst einmal gezwungen, Unmengen von Mokka als Gegengift zu brauen. Erst dann kann ein neuer Tag beginnen, habe ich wieder die Energie, durch die Kopfstein-gepflasterten Straßen zu ziehen.
Geprägt wurde Belgrads heutiges Stadtbild von Neoklassizismus, Romantik und akademischer Kunst, die Stadt zeigt Gründerzeitarchitektur und großbürgerliche Fassaden stolz her. Wunderschön die vom Jugendstil beeinflusste Nationalversammlung oder das Nationalmuseum. Den Dom des Heiligen Sava zieren Elemente neo-byzantinischer Architektur. In diesem Mischmasch haben sich auch dörflich anmutende Strukturen erhalten. Das kopfsteingepflasterte Kneipenviertel mit der Ulica Skadarska birst im Sommer vor Besuchern, jetzt ist es ruhig.
Das eingemeindete Städtchen Zemun bietet zwischen den Außenterrassen der Fischrestaurants den kleinstädtischen Charme der K&K Epoche direkt an der Donau. Etwas weiter vom Stadtkern entfernt, schwanken die Häuserblocks zwischen bourgeoiser Grandezza und ideenloser Kastenarchitektur oder verwahrlosten Bürogebäuden der Neuzeit. Dazwischen hinterließen der Zahn der Zeit oder die NATO-Bombardements vereinzelte Wunden im Stadtbild. Wie in einem schadhaften Gebiss, klaffen Löcher in den Häuserreihen. So das halbzerstörte Radio-TV Gebäude. Diese Lücke wird bewusst nicht beseitigt. Weniger ein stilles Mahnmal vom Wahnsinn des Krieges, als ein Statement, das der Underdog Belgrad verletzt, empört und trotzig herzeigt.
Der große Architekt und Städteplaner Le Corbusier gab Belgrad das Etikett der hässlichsten Stadt der Welt am schönsten Ort der Welt. Meiner Meinung nach lag er mit beidem falsch! Denn Belgrad, die Stadt auf dem Felsen über dem Zusammenfluss von Donau und Save, ist beileibe nicht hässlich und die Location, bei weitem nicht so spektakulär, wie Le Corbusiers Schlagwort vermuten lässt. Trotz der leicht erhöhten Lage der Altstadt über der weiten Ebene, in Sichtweite des Waldes der Donauauen.
Auf der dem Stadtkern gegenüberliegenden Seite der Save durften sich in der Nachkriegszeit die Architekten nach den Plänen von Le Corbusier austoben. Sie schufen einen neuen Stadtteil für 150.000 Menschen – Novi Beograd. Der ist heute mit seinen Blokovi (dt. Blöcke) berühmt berüchtigt und selbst schon wieder Anschauungsobjekt für die Periode des Brutalismus. Doch selbst in Novi Beograd fällt auf, dass die klotzige Architektur bei weitem belebter ist, als vergleichbare Stadtteile in unseren Breiten. Liegt das am Klima? Irgendwie gelingt es den Menschen hier besser, die abweisende Architektur in Besitz zu nehmen.
Wo etwas allzu hässlich ist wird gemalt, gepinselt, gesprüht. Belgrad ist voll mit Street Art. Wo das Geld für Putz, frische Farben oder eine Sanierung fehlen, springen Graffiti-Künstler in die Bresche. In der Stadtmitte oft mit den gefälligeren, weltläufigeren, liberalen Motiven, in Novi Beograd fallen auch schon einmal die härteren Graffitis politischer Extremisten, Tschetniks, Faschisten oder Fußball Ultras auf.
Nicht nur das Stadtbild hat Schaden genommen. In der Psyche der Belgrader hat die jüngere Vergangenheit tiefe Wunden hinterlassen: Der Zerfall des stolzen Jugoslawiens, die Kriege mit den abtrünnigen Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien und im Kosovo, das Embargo der EU und vielleicht noch mehr als das, die Tatsache im Westen als Buhmann im Jugoslawien-Konflikt dar zu stehen, stört die Belgrader. Obwohl doch auch Kroaten und Bosnier einen gehörigen Anteil an den Kriegsgräuel haben! „Fair hat in diesen Kriegen niemand gespielt. Nationalisten und gar Faschisten auf der anderen Seite haben auch Kriegsverbrechen begangen“, redet sich Milan unser kenntnisreicher Stadtführer schnell in Rage. An drei Free Walking Tours nehme ich in Belgrad teil – so sehr fesseln mich die Geschichten der Tour-Guides. Jede spannend wie ein Krimi. Milan, ein hagerer Enddreißiger, eigentlich Lehrer mit Geschichtsstudium, beschäftigt sich auch heute noch gerne mit den großen Fragen der jugoslawischen Vergangenheit. Mit schütterem Haar und hohen Wangenknochen wirkt er hinter seiner Nickelbrille asketisch. Obwohl immer ein wenig distanziert, ist er ein sprudelnder Quell für Anekdoten aller Art. Atemlos, da wir meist ein wenig hastig unterwegs sind, erklärt mir Milan auf unserer Tour durch das sozialistische Belgrad, wie lange die Konflikte hier bereits zurückreichen. Weit in die Zeit hinein bevor es ein Jugoslawien gab, in der Teile des Landes zur K&K Monarchie der Österreicher oder zum Reich der osmanischen Sultane in Konstantinopel gehörten, die Menschen ihren Kompass in der ethnischen Zugehörigkeit, im katholischen Glauben, im orthodoxen Christentum oder im Islam fanden. Oft überlappten sich all diese Faktoren: Ethnische Abstammung bedeutete nicht Zugehörigkeit zu einer Religion, die Religion ist kein sicherer Hinweis auf die Ethnie – auf dem Balkan ist alles ein wenig komplizierter, verworrener. Es entwickelte sich eine überdrehte Screwball-Komödie mit tragischem Ausgang.
Der osmanische Name Belgrads Dar Ul Jihad – Haus des Krieges – charakterisiert das Schicksal der Stadt vielleicht am besten. Über Jahrhunderte an der Schnittstelle zwischen osmanischem Reich und christlichem Abendland war Belgrad immer umkämpft. In der jüngeren Geschichte war es 1915 der Schauplatz der bis dato größten Landung der Militärgeschichte. Über Pontonbrücken stürmte eine Streitmacht deutscher und österreichischer Truppen in die Stadt. Belgrad erlebte daraufhin die Weltpremiere schwerer Straßenkämpfe, die mit moderner Artillerie mitten in einer Großstadt ausgefochten wurden. Im Zweiten Weltkrieg bombardierte die deutsche Luftwaffe die jugoslawische Hauptstadt mit verheerenden Verlusten für die Zivilbevölkerung, obwohl die Stadt nicht verteidigt wurde und zur offenen Stadt erklärt war. Hitler wollte Rache für das, was er den Jugoslawischen Verrat nannte. Von dieser Zeit erzählt Emir Kusturicas Film-Klassiker Underground. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges bombardierten dann auch noch die Alliierten die Stadt. Die NATO folgte 1999 – wohl aus alter Gewohnheit.
Milans Stories und die jugoslawische Geschichte fesseln mich. Während wir im Jugoslawien-Museum an Titos schlichter Grabstätte aus weißem Marmor entlangschlendern, plaudert der Lehrer vom Zerfall des Landes, vom Krieg mit den ehemaligen Bundesgenossen, aber auch von Jugoslawiens Glanzzeit: Nachdem sich der Kommunist Tito von Moskau distanzierte, wurde Jugoslawiens Präsident plötzlich ein umworbener Partner und Führer der Blockfreien Staaten. Anfang der 60er Jahre schwamm das Land plötzlich im Geld. Mit stolzgeschwellter Brust erzählt Milan, dass der jugoslawische Pass eine Zeit lang der beste der Welt war. Fast die ganze Welt war Visa frei zu bereisen. Jugoslawien war das Ibiza des Ostblocks. Leicht bekleidete Bikini-Mädchen tanzten zu seichter Popmusik durchs Staatsfernsehen, an den Traumstränden feierte man die Sommer hindurch. Milan berichtet, dass sein Vater als Technischer Zeichner damals 40 Tage Urlaub hatte, seine neu gekaufte Belgrader Wohnung konnte er in drei Jahren abbezahlen. Sein neues Auto kostete ein Monatsgehalt. Wenn es vielleicht auch nur ein Yugo war, diese automobile Promenadenmischung aus VW Polo und Trabant mit FIAT Technik. Die Jugoslawen ließen es sich gut gehen. Derweil fuhr Tito, der ehemalige Partisanen-Kämpfer, im offenen Cadillac durchs Land oder weilte auf der Staatsyacht. Er trank am liebsten französischen Cognac – andere schwören es war sündhaft teurer Whisky, vorzugsweise 20 Jahre alter Chivas Royal. Auf alten Fotos wirkt der Staatsmann mit Zigarre und dunkler Sonnenbrille heute selbst wie eine Pop-Ikone. Aus irgendeinem Grund wurde Jugoslawien in diesen Jahren mit amerikanischen Dollars förmlich geflutet. Doch warum eigentlich? Die offizielle Antwort lautet: Tito lavierte geschickt zwischen den Blöcken, ließ sich erfolgreich von West und Ost hofieren. Eine andere Erklärung bietet der slowenische Filmemacher Žiga Virc mit seinem erstklassigen Mockumentary Houston, we have a problem – einer Mischung aus Dokumentarfilm und Verschwörungstheorie.
Die Handlung in Kürze: Als die Amerikaner Anfang der 60er Jahre mit ihrem Mondprogramm nicht weiterkamen und weit hinter die Sowjets zurückzufallen drohten, verkaufte ihnen Tito für eine Unsumme das geheime, weit fortgeschrittene Raumprogramm Jugoslawiens. Doch leider geht danach eigentlich alles schief. Die aus dem Deal folgenden Verwicklungen führen zunächst zur Ermordung Kennedys, schließlich zum Zerfall Jugoslawiens. Eine haarsträubende Story, handwerklich perfekt gemacht, mit Originalbildern von Tito und Kennedy, brillant umgesetzt. Nur ausgewachsene Geschichtsfreaks können hier noch auseinanderhalten, welcher Teil der Originalbilder und –kommentare echt und welcher gefaked ist. Unbedingt anschauen!
Die Jugoslawienkriege in der ersten Hälfte der 90er Jahre unter dem Regime von Slobodan Milošević haben Serbien wirtschaftlich schwer geschädigt. Obwohl auf serbischem Boden nicht gekämpft wurde, stürzte der Wegfall des Warenaustausches mit den übrigen Teilen Jugoslawiens, die Unterstützung der serbischen Truppen in Kroatien und Bosnien, kriegsbedingte Mangelwirtschaft sowie ein Wirtschaftsembargo das Land in eine verheerende wirtschaftliche Krise. Bereits 1992 hatten zwei Drittel aller Betriebe geschlossen, bis 1995 kam die formelle Wirtschaft fast völlig zum Erliegen. Es folgten der wirtschaftliche Zusammenbruch und eine Hyperinflation. Ich lese von monatlichen Inflationsraten von bis zu 300.000.000 Prozent, bezweifle die Zahl jedoch. Eine solche Inflationsrate lässt sich nach meinem Verständnis eigentlich gar nicht mehr berechnen. Aber ich hatte auch nur vier Punkte im Mathe-Abi und musste in die Nachprüfung. Schon greifbarer: Die Kaufkraft des durchschnittlichen Monatseinkommens sank auf einen Gegenwert von DM 56,-, die Durchschnittsrente auf einstellige DM-Beträge. Vier Fünftel der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Fast die gesamte wirtschaftliche Aktivität verlagerte sich in den informellen Bereich. Das bedeutet in den Tauschhandel, die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln durch Nebenerwerbslandwirtschaft oder in Grauzonen, wie Schmuggel. Schwarzmarkt und Kriegsgewinnlertum. Nur das Aufbrauchen von Devisenersparnissen und die Unterstützung durch im Ausland lebende Serben ermöglichten der Bevölkerung das Überleben. Serbien ist ein gutes Beispiel wohin Nationalismus und Krieg führen: Zurück in die Steinzeit. Im Jahr 2000 lag das jährlich erwirtschaftete BIP eines jeden Serben bei nur noch US $ 1.239. Am anderen Ende der Wohlstandsskala entstand dagegen eine kleine Schicht serbischer Oligarchen, auch Taikune genannt, die die Kriegswirtschaft prächtig zu nutzen vermochten.
Die Krisenjahre gipfelten im Kosovokrieg und der am 24. März 1999 beginnenden Operation Allied Force: Dem ersten NATO-Einsatz, der nicht von einem UN-Mandat gedeckt war. Die NATO begann 78-tägige Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, von der auch das Stadtzentrum Belgrads schwer betroffen war. Nicht immer mit der Treffergenauigkeit, die uns die Hightech-Feldherren mit ihrer Vision von chirurgischen Schlägen in einem sauberen Krieg in die Wohnzimmer vermitteln wollten: Bei dem schwersten Bombardement in der Nacht zwischen dem 7. und 8. Mai wurden viele Kinder getötet und versehentlich die Chinesische Botschaft völlig zerstört.
Besteht nach den wirren Ereignissen des jugoslawischen Zerfalls überhaupt die Möglichkeit, festzustellen, wer die Kriegsschuld trägt oder wer welchen Anteil daran hat? Ist die Frage der Schuld überhaupt wichtig nach einem Desaster dieses Ausmaßes? Für Milan schon. Teil seiner persönlichen Mission ist es, Serbien in ein besseres Licht zu rücken. Natürlich gab es Schweinehunde in Serbien, die Schuld für den Kriegsausbruch liegt für ihn aber ebenso bei den faschistischen Kroaten. Die hätten ihre Unabhängigkeit in Verbindung mit der gleichzeitigen Ausbürgerung aller Serben auf kroatischem Staatsgebiet ausgerufen. Serbien hätte die Pflicht gehabt, seine Landsleute zu schützen. Milan hält außerdem die von der NATO über Serbien abgeworfenen Cluster-Bomben, eine Streumunition mit geringer Treffergenauigkeit, nicht gerade für die feine englische Art. Recht hat er! Ist schon die Bombardierung der Zivilbevölkerung ethisch nicht zu vertreten, ist der Einsatz von Bomben dieser Art überhaupt nicht vertretbar. Gerade wenn man ein Regime, die Infrastruktur, nicht aber die Zivilbevölkerung treffen will. Human Rights Watch geht von bis zu 500 zivilen Opfern aus. Die zum Teil verwendete durchschlagskräftige Munition aus abgereichertem Uran macht Milan dafür verantwortlich, Serbien die höchste Krebsrate in Europa beschert zu haben. Die Geschosse setzen beim Aufprall uranhaltige Aerosole frei. Vielleicht darf man auch bei Milan nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Doch seine Sicht der Dinge zeigt sehr deutlich, dass wir alle stark von öffentlichen Meinungen geprägt werden. Oft grob vereinfacht und verkürzt dargestellt, weil uns bei der Vielzahl von Themen und Konflikten die Komplexität überfordert. Oft bleibt nur ein Cowboy mit weißem Hut und einer mit schwarzem übrig. Und die Serben möchten nicht nur der Cowboy mit dem schwarzen Hut sein. Die Meinungen zum Krieg sind in Serbien deutlich differenzierter als in Westeuropa. Kein Wunder, man war ja mittendrin. Viel präsenter sind hier die kroatischen oder bosnischen Verbrechen und Milošević, den eigenen Präsidenten, hat man schließlich irgendwann selbst vom Hof gejagt. In den Kriegen dieser Weltregion gibt es jede Menge Grautöne. Gibt man sich Mühe, kann man die weltweit bei fast allen Konflikten finden. Politiker und Medien müssen uns armen überforderten Bürgern aber in der Kürze der 20 Uhr Nachrichten eine einfache und verständliche Version verkaufen. Von Vietnam über den Irak bis nach Jugoslawien. Am besten die Version, die gewährleistet, dass wir alle glauben unser Land steht auf der richtigen Seite – felsenfest hinter dem weißen Cowboy. Auch wenn der sich selbst die weiße Weste bekleckert hat.
Zur Jahrtausendwende war Serbien nicht nur wirtschaftlich und politisch pleite, sondern auch innerlich gespalten: Anfangs konnten Bürgerproteste noch niedergeschlagen werden, oppositionelle Politiker wurden unterdrückt und liquidiert. Im Jahr 2000 folgte der Zusammenbruch des Regimes von Slobodan Milošević. In der Fußgängerzone brüllen noch heute ein paar abgerissene Tschetniks unter Transparenten ihre Parolen ins Megaphon. Aber bis auf ein paar alte Mütterchen scheint sich in der geschäftigen Belgrader Innenstadt niemand dafür zu interessieren. Seitdem dem Fall Miloševićs erlebt Belgrad einen langsamen, aber anhaltenden ökonomischen Aufstieg. Trotzdem erwirtschaftet auch heute noch jeder Serbe nicht mehr als $ 7.400 jährlich, immerhin eine Versechsfachung des niedrigen Ausgangsniveaus. Das Niveau eines Entwicklungslandes, weit entfernt vom stolzen Jugoslawien. Milan ist heute einerseits froh, dass er als Stadtführer bis zu € 2.500,- monatlich verdienen kann. In seinem alten Job als Lehrer läge sein Gehalt bei höchstens € 500. Andererseits wurmt ihn gerade diese Diskrepanz als Anzeichen für das dysfunktionale Staatswesen. In Serbien ist noch längst nicht alles gut. Und Milan ist fest davon überzeugt, dass sein Land noch nicht den Platz in der Gemeinschaft der friedliebenden Völker einnimmt, der ihm gebührt.
Ein Sinnbild des jugoslawischen Dramas bekomme ich als Souvenir mit auf den Heimweg. Fast jedem Touristen wird bei irgendeiner Gelegenheit, ein wertloser 10-Mrd.-Dinar-Schein angedreht. An meinem letzten Nachmittag sitze ich in einem kühlen Felsgewölbe, tief unter der Belgrader Festung. In der grob aus dem Fels gehauenen Höhle, genieße ich in rustikalem Ambiente die Produkte, die hier traditionell gelagert wurden: Gut gekühlte Weißweine.
Cvetana, unsere hochaufgeschossene Stadtführerin, erweckt in der mittelalterlichen Umgebung den Eindruck, als hätte entweder Sie oder der Keller den falschen Maßstab. Es bereitet ihr sichtlich Mühe, immer wieder den Kopf vor der niedrigen Decke in Sicherheit zu bringen. Zum Ende unserer Tour kommt sie mit der Abrechnung zum Tisch. Obwohl die kenntnisreiche Cvetana zu freundlicher Ernsthaftigkeit neigt, lässt auch sie sich hinreißen, den serbischen Standardwitz zu präsentieren. So bekomme auch ich die wertlose 10-Mrd.-Dinar-Note mit meinem Wechselgeld. Auf dem Schein prangt das Konterfei des exzentrischen Lebemanns Nikola Tesla, Erfinder des Wechselstroms mit serbischen Wurzeln, gescheiterter Unternehmer und auch ein wenig der Prototyp des verrückten Erfinders. Der klassische Mad Scientist mit Anleihen bei Jules Verne. Auch er ist ein Symbol für serbisches Scheitern. Auf einer Ebene mit Edison oder Alexander Graham Bell, lebte er jahrelang im New Yorker Waldorf Astoria. Von seinen Erfindungen profitierten jedoch meist andere. Ob ich weiß, was mir der Schein sagen soll, fragt mich die sonst so seriöse Studentin verschmitzt? Ich drehe den Schein in meinen Händen hin und her und betrachte ihn wie ein noch ungelöstes Sudoku-Rätsel. Doch letztlich kapituliere ich ratlos. Sehr hübsch ist der Schein nicht. Die Gestaltung ist sparsam, der rötliche Braunton undefinierbar. Er wirkt nicht wie echtes Geld, sondern fühlt sich eher wie eine Monopoly-Note an. Lange lässt mich Cvetana nicht rätseln: Wenn mich die Lieben daheim fragen, „Und? Was hast Du aus Belgrad mitgebracht?“, dann soll ich lässig antworten: „10 Milliarden und einen Tesla.“ Und anschließend den Schein vorzeigen. Ich lächele pflichtschuldigst. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto klüger erscheint mir die Psychologie hinter der Pointe: Wahrscheinlich ist es das Vernünftigste, die vergangenen Vernichtung des eigenen Wohlstandes mit Galgenhumor zu betrachten. Für Cvetana sind diese Zeiten sowieso nur noch vage Kindheitserinnerungen.
Schöner Beitrag, ich habe ihn mit meinen Freunden geteilt.
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