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Des Teufels Baumeister hat Lüttich erbaut. Die Stadt quetscht sich ins enge Maas-Tal kaum 50 Kilometer von der deutschen Grenze. Platz ist knapp und architektonischer Brutalismus regiert entlang des Flussufers. Lüttich oder besser Liège erinnert an die Betonsilos von Novi Beograd. Hier jedoch scheinbar mit kleinerem Geldbeutel erbaut, etwas weniger gigantisch. Auch die Verkehrsmagistralen schlängeln sich kurvenreich am Fluss entlang. Außerhalb des Stadtzentrums garniert von verfallenden Stahlwerken und den rostroten Backsteingebäuden der Schwerindustrie, deren zersplitterte Scheiben nicht mehr vor dem ewigen Regen schützen. Ein Castrop-Rauxel in den wallonischen Hügeln. Dazwischen die Reihenhäuser einer Bergarbeitersiedlung, die auch in die englischen Midlands passen würde. Ein wenig wohlhabender vielleicht. Im Stadtzentrum ein Hauch von Grandezza im Zierwerk der Hausfassaden. Viertel mit Bürgerhäusern wie in Flandern, die daran erinnern, dass auch Kohle und Stahl einst Wohlstand in die Wallonie brachten. Aber weit entfernt von Antwerpens oder Brüssels Pracht.

Doch ins prunkvollere Stadtzentrums zieht es mich heute nicht mehr. Stattdessen trinke ich ein paar Biere am futuristischen Bahnhof dessen Dachkonstruktion an eine überdimensionierte Tiffany-Lampe erinnert. In schlechter Gesellschaft. Denn wie so viele Bahnhofsviertel ist die Gegend offensichtlich nicht die beste. Der Prozentsatz fragwürdiger Gestalten, die hier Schaulaufen, ist hoch. Wahrscheinlich nicht mehr lange, denn mit Kongresszentrum, Business District und dem Bahnhof für den TGV, erhält der Stadtteil ein Upgrade, wird gentrifiziert. Vieles ist noch Baustelle, manches schon brandneu! Hipster mit Bärtchen und ein paar Geschäftsleute mischen sich unter das bunte Völkchen. Beherbergt von neu entstandenen Hotels, in denen vom Toaster bis zum Orangensaftspender alles nur per Keycard funktioniert.

Die Biere vom gestrigen Abend schmerzen noch ein wenig, als ich die steile Rampe der Tiefgarage hinauf ins grelle Tageslicht fahre. Ich will raus aus der Stadt. Lüttichs Vororte mit ihren leicht angejahrten Möbelhäusern, rostigen Kokereien und deprimierenden Selbstbedienungstankstellen liegen schnell hinter mir. Durch sehr viel dichten Wald und malerische Hügellandschaft stoße ich zügig auf Dinant vor. Wie schon Hasso von Manteuffels Panzerdivisionen im Dezember 44. Unterwegs pittoreske Dörfer, die sich in saftig grüne Senken ducken, freistehende Herrensitze, Soldatenfriedhöfe und noch mehr dichter Wald. Eine Landschaft mit dem Etikett familienfreundlich. An einer Boulangerie Artisanale decke ich mich mit dem Frühstück ein. Knusprige Croissants und kunstvoll gedrechseltes Marillen Gebäck. Frankreich ist nah, man versteht zu leben. In dieser lieblichen, wenn auch sehr feuchten Landschaft, wollte der GröFaZ kurz vor Weihnachten 1944 noch einmal Zeugnis seiner Genialität ablegen. Die Ardennen-Offensive als finaler Akt des Wahnsinns sollte im Westen Kriegswende und Endsieg bringen. Im Führerbunker vergraben, Tageslicht und Realität längst entrückt, schiebt Reichskanzler H. zusammen mit einem verstrahlten und zumindest zum Teil sedierten Stab Geisterdivisionen über Generalstabskarten. In Gesellschaft des Herrn vom Inn träumt man von der letzten Finte, während alliierte Truppen hier und da bereits die Reichsgrenze überschritten haben. Die Wehrmacht – oder was von ihr im Westen noch übrig ist – schickt man auf einen Ausflug ins mehr als 200 Kilometer entfernte Antwerpen. Der Hafen über den Briten und Amis ihre Streitkräfte versorgen soll abgeschnitten werden. Der Weg dorthin führt quer durch die wunderschönen Ardennen und sollte später durch ganz Belgien bis zur See führen. Dazu kam es natürlich nicht mehr. Aber die Ardennen wurden, wie erst vier Jahre zuvor, erneut mit Blut getränkt. Den erforderlichen Sprit für den weiten Weg sollten sich Kübelwagen, schwere Mercedes-LKWs und durstige Tiger-Panzer unterwegs selber suchen. Der zuständige Generalissimo von Manteuffel hockte schließlich mit seinen Panzerspitzen auf den Hügeln über Dinant. Ohne Sprit. Angeblich 13 Mio. Barrell feinster Treibstoff direkt vor seiner Nase. Doch ohne Luftaufklärung wusste er davon nichts. Und so konnte der vierfache Ritterkreuzträger von M. irgendwann nur noch retten, was zu retten war und den Rückzug antreten. Antwerpen konnte weiterhin ruhig schlafen, von Manteuffels Mannen fanden mit Mühe und Not heim ins Reich, General Pattons Truppen immer im Nacken.

Natürlich bekomme ich heute auf meiner Fahrt durch die Ardennen Sprit, wo ich ihn brauche und im Gegensatz zu Hasso gelingt es mir ohne besondere Vorkommnisse die Ost-Abhänge der hinab zur Maas vorzustoßen. Dinant mit seinen Abteien und der malerischen Altstadt entlang der Maas erreiche ich bei feinstem Nieselregen und gut verproviantiert. Sofort überquere ich die Maas und bilde auf der Westseite des Flusses einen Brückenkopf. Aus solchermaßen gesicherter Stellung, genieße ich Gebäck und Aussicht auf die beeindruckende Silhouette der Stadt – ohne mich während der Fahrt mit Marillen Konfitüre zu bekleckern oder mir heißen Kaffee in den Schoss zu schütten.

Inzwischen regnet es in Strömen. Fein! Denn ein feuchtes Reizklima ist ja eines der Markenzeichen der Ardennen. So dümpeln die Ausflugsdampfer beschäftigungslos an den Quais. Die Touristen sind scheinbar noch im Bett, ein paar unverzagte vielleicht auch schon in den Kneipen. Ich ignoriere den Regen und hangele mich von Markise zu Sonnenschirm. Wie durch einen Schleier bewundere ich die Kathedrale mit ihrer mächtigen Dachkonstruktion, die einer skurrilen Zipfelmütze mit Sahnehäubchen ähnelt. Unweit der Maas-Brücke steht sie vor imposanter Felswand, die den gotischen Bau wie eine Theaterkulisse in Szene setzt. Hoch oben krönt eine Festung den Fels. Ein weiteres Markenzeichen der Stadt ist das Saxophon. Adolphe Sax, der Mann der es 1840 erfand, stammt aus Dinant. Das erklärt zumindest warum mehr poppig lackierte Pappmaschee-Saxophone als Laternen die Maas Brücke flankieren.

Die beengte Lage zwischen steilen Höhenzügen ließen Dinant für größere militärische Aktivitäten wohl eher ungeeignet erscheinen. Wenn sich in Dinant schon keine Schlacht schlagen ließ, so sorgte ein sächsisches Regiment im August 1914 dafür, den Ort wenigstens durch ein Massaker an der Zivilbevölkerung in die Geschichtsbücher zu bringen. Man vermutete Kollaborateure – auch unter Frauen und Kindern. Das Leben mit dem deutschen Nachbarn war in dieser Region schon immer hart. Die Belgier werden heilfroh sein, dass sich deutsche Armeen inzwischen abgewöhnt haben, alle Jubeljahre hier durch zu walzen, um den Erzfeind Frankreich zu besuchen.

An den Quais werden die Sonnenschirme vom Wind jetzt ordentlich durchgeschüttelt. Die Restaurants sind verweist. Bei den wenigen Passanten sind die Gaufres, also Waffeln, der Hit. Brüsseler Waffeln, Lütticher Waffeln; zubereitet von Eisdielen, Imbissbuden, Restaurants und Kiosken – jeder bietet sie in allen Varianten zum Verzehr an. Nach dem weltweiten Siegeszug des Pommes der nächste belgische Exportschlager for takeaway. Im Mittelalter hatten Waffeln eine religiöse Funktion. In Belgien haben sie die scheinbar immer noch. Jedenfalls scheint es so, als hätten die Belgier alle ziemlich einen an der Waffel, das heißt, gewöhnlich eine auf der Hand oder zumindest einen Narren an ihr gefressen. Bekannt ist Dinant aber auch für ein recht staubiges Kaffeegebäck. Für die Couques de Dinant werden stolze Preise aufgerufen, sie gehören zur Spezies der Lebkuchenartigen. Angeblich ein Vorläufer der Aachener Printe. Ein Teil der Gilde der Printen Bäcker verließ Dinant gen Aachen. Dort hätte man wohl einfach nach alter Rezeptur weiter gebacken, aber Gott sei Dank war mittlerweile die Schokolade entdeckt und verhalf nun der Aachener Printe zu Genießbarkeit. Dinant agiert hingegen weiterhin schokoladenlos bei seinem Traditionsgebäck.

Am frühen Nachmittag brechen doch noch erste Sonnenstrahlen durch die schwere Wolkendecke. Als der Regen nachlässt kommen auch die Touristen aus ihren Löchern und der ein oder andere Binnenschiffer rüstet sein Schiff schon vorsichtig zum Flussvergnügen. Bevor es noch voller wird flüchte ich gen Liège. Antwerpen schaffe auch ich heute nicht mehr. Vorbei an dichter Friedhofsarchitektur. Resultat zunächst des imperialen, später dann des faschistischen Größenwahns, Gräber aus Weltkrieg 1 und 2. Ein Penibel manikürter amerikanischer Soldatenfriedhof, von gewaltiger Dimension und blitzsauber. Aber auch Kanadier, Franzosen und Deutsche fanden in den Ardennen ein Stück Gottesacker in fremder Erde. Gestorben wurde hier immer.

Schließlich zurück in Liège für eine Samstagnacht! Obwohl in der Altstadt scheinbar alle ausgehen, habe ich selten schlechter gekleidete Menschen gesehen. Liège scheint auch die Hauptstadt des schlechten Geschmacks zu sein. Stimmt das? Würde ich meine verwaschenen, 20 Jahre alten viel zu großen T-Shirts vom Stapel der Gartenbekleidung hier auftragen, wäre ich perfekt gekleidet. Aber wahrscheinlich ist man in Liège einfach nur viel näher an Paris, ich habe keine Ahnung und in meiner ländlichen Heimat sämtliche Trends verpasst. Denn in dieser Beziehung bin ich nicht gerade die Spitze der Bewegung! Doch ebenso wenig wie die Modesünden verstellen die Bausünden den Blick auf die charmanten Seiten der Stadt. Die gibt es in der Altstadt durchaus. In den schmalen Gassen nicht weit von der Kathedrale schlägt Lüttichs sündiges Herz, das Lüttich der Kneipen, Restaurants und Nachtschwärmer.

Belgien: DAS LANGWEILIGSTE LAND DER WELT? Das mag auf einige Landstriche zutreffen. Hört aber gewöhnlich schon bei der Bierkarte auf. Die nimmt gerne mehrere Seiten der Speisekarte ein. Oder das Büchlein kommt gleich separat, wie anderswo die Weinkarte. Selbst die Schlümpfe helfen in Belgien Bier zu verkaufen! Genauer gesagt sind es Gnome, die auf Plakatwänden und Bierdeckeln für den Gerstensaft werben. Nur Belgier können auf die Idee kommen, einen lustigen, bunten zipfelbemützten Schlumpf zur Werbeikone einer Biermarke zu machen. Die Vielfalt der Biere im Land ist unüberschaubar. Fruchtzusätze sind gebräuchlich und hey, bitte nicht nur Aromen sondern echte Früchte! Das Reinheitsgebot interessiert kein Schwein. Unendlich viele Alkoholstufen derselben Marke: 5%, 6% oder gar 9%? Was darf´s denn sein? Gefiltert oder ungefiltert? Trappistenmönche brauen bei offenen Fenstern experimentell unter Zuhilfenahme der zufällig vorbeigewehten natürlichen Hefe. Mal kommt mehr, mal kommt weniger vorbei. Das Ergebnis: Wechselhaft. Erlaubt ist, was gefällt! In den Semesterferien mal in der Kneipe jobben? Hier braucht es zwei Jahre bis der Azubi weiß, welches Bier in welches Glas gehört!

Nachdem mir das letzte Bierchen eine Gänsehaut in den Nacken zaubert, entsage ich den unbedingt noch zu probierenden Obstgärungen und weiteren Starkbieren. Stattdessen ziehe ich mich zurück in meine psychedelische Herberge. Irgendein Spaßvogel hat den Flur komplett schwarz gestrichen. Schwarze Installationen auf schwarzem Grund. Flackernde, asymmetrische Beleuchtungsbänder kriechen die Wände hoch und laufen unter der Decke entlang, verstärken mein leichtes Schwanken. Nach einigem Gefummel mit Keycard und Codes verschwinde ich in Schrankbett Nr. 65 hinter einer Schiebetür. Goodbye Grandhotel, willkommen im 21. Jahrhundert.

Am Sonntagmorgen verlasse ich die Stadt in aller Frühe. Hinter der Brutalismus-Kulisse am rechten Maas Ufer entdecke ich einen Stadtteil mit fast pariserischem Charme und den dazu gehörigen Bistros an kleinen Plätzen. Ein Endfünfziger mit zerfurchtem Gesicht fegt den Papiermüll des Vorabends zusammen, ein verschlafener Barkeeper stapelt Stühle. Schade, Liège wäre definitiv noch ein, zwei Tage Bummel wert gewesen. Doch das Hoëgne Tal und das Hochmoor des Hohen Venn warten noch. Viel saftige Natur als Gegengift für die Ästhetik der Lütticher Bau Zunft. Irgendwo hier oben zwischen Eifel und Ardennen wird sich auch unser Freund Hasso wieder über die Reichsgrenzen gehangelt haben. In diesen letzten hektischen Monaten des Untergangs wurde er noch abgestellt, die Russen in Pommern aufzuhalten. Doch schon im Mai 1945 hatte sich das 1.000jährige Reich erledigt. Von M. rettete sich in britische Gefangenschaft, dann in die FDP und später in den Bundestag. Entnazifizierung light? Integrationskräfte der neuen Republik? Unser Hasso ein geläuterter Demokrat? Nicht ganz. Laut britischem Geheimdienst soll er Kontakte zu einer Vereinigung von Altais rund um einen ehemaligen Gauleiter gepflegt haben. Leider haben die nicht nur Bierchen getrunken und in Erinnerungen geschwelgt.

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