Die Schluchten des Balkan sind scheinbar endlos. Auf dem Weg von Montenegro nach Norden setzen sie sich in der Herzegowina und in Bosnien fort. Die Menschheit hat allerdings hier noch in ganz andere Abgründe geblickt: Srebenica, Mostar und Sarajevo sind zu Synonymen für Grausamkeit geworden. Der Mensch als des Menschen Wolf. Die Geschichte der Jugoslawien-Kriege mit seinen Gräueltaten und die Ereignisse vieler Jahrhunderte, die ihn herbeigeführt haben, sind wahrscheinlich ähnlich verworren, wie Game of Thrones, das passenderweise auch an Drehorten im ehemaligen Jugoslawien gefilmt wurde. Acht Staffeln könnte man locker mit der Geschichte des Balkan füllen. Auch diese Stories wären dann wohl kaum zu verwechseln mit einem nicht sehr appetitlichen Fantasy-Roman.

Heute sind Sarajevos Dächer wieder frisch gedeckt, ausgebrannte Dachstühle und Löcher von Granateinschlägen beseitigt. Die Stadt feiert das Leben. Restaurants und Shisha-Bars sind voll. Doch die Fassaden tragen oft noch die Narben eines Krieges, der Europa vor 29 Jahren bis ins Mark erschütterte. Worum ging es? Um die Ethnie und alte Rachegelüste, scheint es. Ethnie kann aber in Bosnien oft nur über die Religionszugehörigkeit definiert werden. Religion jedoch, wurde im ehemaligen Jugoslawien meist sehr säkular, eher im Verborgenen, gelebt. Was für ein Quatsch, also!

Slobodan drückt es einfach aus:

„Ich liebe mein Land! Natürlich. Aber deshalb auf meinen Nachbarn, mit dem ich gestern noch Kaffee getrunken habe, schießen? So, wie es mein Vater erlebt hat? Menschen sind nur Schafe!“

Mit dem resignierenden Nachsatz meint er, niemand rebelliert, niemand verweigert sich, wenn ein paar Nationalisten eine große Klappe haben, alte Geschichten von Blut und Ehre aus der Mottenkiste holen und Menschen, die jahrzehntelang friedlich zusammen gelebt haben, aufeinander hetzen. Stattdessen laufen die Menschen Brandstiftern wie Lemmingen nach und legen ihre gute Kinderstube ohne Scheu und Hemmungen ab.

Sicher: Geschichte – gerade auf dem Balkan – kann wie überall von mehreren Seiten betrachtet werden. Das sagt auch Adnan, mein Stadtführer in Sarajevo, dessen Agentur schon Bill Clinton durch die Stadt geführt hat.

„Der Balkan kreiert schneller Geschichte, als wir sie verarbeiten können. Es gibt in Bosnien immer mindestens drei Versionen derselben Story und so existieren auch immer drei Wahrheiten: Eine bosnische, eine serbische und eine kroatische.“

Und so werden ständig neue Mythen oder soll man sagen Lügen in die Welt gesetzt! Die zementieren scheinbare Gegensätze zwischen den bosnischen Volksgruppen, statt sich auf die 95% der Gemeinsamkeiten zu fokussieren.

Als ich auf Sarajevos Markt meine Vitaminration für den Tag zahle, stutze ich. In Bosnien werden die Preise in Marka oder Englisch in Marks aufgerufen. Das verwirrt mich kurz. Denn irgendeine meiner verschütteten Gehirnwindungen macht es noch genauso, meint aber die gute alte D-Mark. Das streut Sand ins Getriebe meines Währungsrechners, ist aber nicht das einzig Befremdliche auf dem großen Obst- und Gemüsemarkt. Überall in der Stadt stößt man auf die Sarajevo Rose, jene blutrot nachkolorierten Stellen im Pflaster, wo während der 1.425 Tage anhaltenden Belagerung der Stadt, Menschen im Granat- und Kugelhagel starben. Die bevorzugten Ziele der bosnisch-serbischen Armee waren Orte, an denen die Bevölkerung für Brot und Wasser anstand. So auch in den Markthallen. Dort stecken die Schrapnelle zwischen den Ständen noch im Zement des Fußbodens. Die Zünder sollen sogar noch scharf sein, doch angeblich ungefährlich für die Marktbesucher.

Wie kann man 1.425 Tage komfortabel in den umliegenden Bergen hocken und Jagd auf Zivilisten machen, die in Sarajevo, wie am Boden einer großen Suppenschüssel, festsitzen?

Das Ergebnis aller Kämpfe zwischen den Volksgruppen – für ein Großserbien, für die Unabhängigkeit Bosniens oder die Selbstbestimmung in Bosnien: Unentschieden. Zurück blieben verarmte Menschen, zerstörte Städte und Landschaften, eine ruinierte Wirtschaft. Derweil schreitet die ethnisch-religiöse Trennung der gar nicht so Gläubigen stetig weiter voran. Heute ist Bosnien-Herzegowina ein zerrissenes Land. So gibt es in der Hauptstadt Sarajevo neben dem besten Ćevapčići des Balkans, auch eines der kompliziertesten politischen Systeme der Welt. Bosnien ist weltweit das einzige Land, dessen Verfassung auf einem Friedensvertrag, dem Dayton-Abkommen von 1995, beruht. Doch das politische System ist dysfunktional. Auf allen Ebenen herrscht Stillstand: Drei Präsidenten in zwei bosnischen Landesteilen streiten und blockieren sich gegenseitig. Zwischen den Volksgruppen herrscht tiefer Argwohn. Rien ne va plus, nichts geht mehr! Selbst der Einsatz von Armeehubschraubern zur Bekämpfung von Waldbränden scheiterte jüngst am Veto des Präsidenten der serbischen Teilrepublik Srpska, Milorad Dodik. Der gießt erneut fleißig Öl ins Feuer, fordert eine Abspaltung der Teilrepublik Srpska und forciert bereits die steuerliche, juristische und militärische Abspaltung. Dodik möchte eine neue serbisch-bosnische Armee aufbauen – ein Albtraum für alle Bosniaken – und schürt damit Ängste, dass aus dem kalten Krieg wieder ein heißer werden könnte. Haris, unser Fahrer, selbst als Minderjähriger ehemals Kriegsteilnehmer, glaubt zwar nicht an einen neuen Krieg, wagt aber bestenfalls einen bittersüßen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung seiner Heimat:

„Alle in den 90er Jahren beteiligten Kriegsparteien sind so ruiniert, dass es wohl in den nächsten 20 Jahren keinen richtigen Krieg mehr geben wird.“

Das klingt weder sehr optimistisch, noch klingt es nach Versöhnung. Doch die Hoffnung stirbt auch in Bosnien bekanntlich zuletzt.

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